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Montag, 31. Oktober 2016

Und dann war da diese Sache mit der Hochsensibilität [Kurztext]



Und dann war da diese Sache mit der Hochsensibilität 



Sie war müde und trotzdem aufgeputscht. Eine lange, schlaflose Nacht voll von hektischer Aktivität lag hinter ihr. In einem schieren Kraftakt, wie es ihr schien, hatte sie ihr neues Blog zu einem lang bekannten Thema auf die Beine gestellt. Hinter ihrer Stirn arbeitete es pochend, als ob kleine Duracellhäschen auf tausende kleine Trommeln schlügen und das Herz schlug auch viel zu schnell. 

Gesund war das sicher nicht. Sie wußte das und dennoch konnte sie sich noch nicht runterfahren. 

Ihre Gedanken schweiften zu der Entdeckung vor einigen Tagen ab: Durch Zufall war sie bei Twitter auf den Hashtag #HSP gestoßen. 
Sie hatte schnell gewusst, das der Zufallsfund ne große Sache für sie war, daß er eigentlich auch wenig zufällig war. Wenn es nicht für sie sogar DIE große Entdeckung überhaupt war. Jedenfalls, was eine bestimmte tiefere Erkenntnis über ihr Leben anbelangte. 

HSP = das bedeutete HochSensiblePerson oder HochSensitivePerson

Sie war eine dieser hochsensiblen Menschen. Müde rieb sie sich die Stirn. "Ja, das machte Sinn.." dachte sie. Es erklärte eine Menge. 

Es erklärte die Überreizung der Sinne, die sie oft erlebt hatte. In deren Folge es im Kopf "zu voll wurde", wie sie es für sich formulierte. 

Schmerzende Augen, überreizte Geschmacksnerven, übersensible Geruchsnerven und vor Lärm "blutende Ohren", konstatierte sie für sich, zählten zu den Erkennungsmerkmalen eines akuten Zustandes von "Zuviel" oder anders formuliert: eines "Overloades". 

Ihre Sinne nahmen derart viele Zwischentöne und Abstufungen wahr, das ihr Gehirn oft wie ein Turbo auf Hochleistung lief, während es versuchte die riesige Datenflut, die ununterbrochen auf es einprasselte, gewuppt und verarbeitet zu bekommen. 

Einzelne Geräusche konnten in bestimmten Situationen zu Kaskaden werden, die rollend durch ihre Gehörgänge tobten und sich dabei laut tonmalerisch in den Gängen austobten, wie eine Funken stiebende Naturgewalt. 

Unterscheidbar in viele kleine Einzeltöne, als splitte sich ein dicker Ast an seinen Enden in vielerlei kleinteiligem und feinem Geäst auf. 

Mit den Gerüchen verhielt es sich oft ähnlich, wie mit den Geräuschen und auch in Punkto Geschmackssinn boten die Sinne manchmal soviel geballte Empfindsamkeit auf, dass das Essen zu einem besonderen Erlebnis werden konnte, dabei konsequenter Weise aber nicht immer zu einer angenehmen Erfahrung führte.  

Es war nicht an jedem Tag gleich und es gab Tage, an denen die Empfindlichkeit besonders fühlbar auffällig wurde. Ein Parfumgeruch, der sich aufdringlich reizend auf die Geruchsnerven legte, konnte sie in seiner Intensität schonmal stark aus dem Gleichgewicht bringen, so daß ihr nach Flucht und dem abschütteln des Geruchs zumute war. 

Vielfach erlebte sie Situationen, in denen sie die Menschen untereinander in einer Vielschichtigkeit erlebte, wie es den Menschen selbst meist nicht klar war. 

Sie sah zuhauf die vielen unterbewußt gesendeten Signale und Botschaften der Menschen untereinander und nahm wahr, was die Menschen selbst oft nicht bemerkten, vielleicht auch nicht bemerken konnten, da man selbst oft wie hinter einem Schleier sitzt, in Bezug auf die Eigenwahrnehmung. 

Im Laufe der Jahrzehnte war sie zu einer guten Beobachterin herangereift und wusste deshalb inzwischen meist schnell um die unterbewussten Sehnsüchte und Wünsche der Menschen, ebenso wie sie unterschwellige Emotionen wie Neid, Hass, Wut, Agression, Trauer, Enttäuschung, Verlangen oder auch Freude oder Glück sehr schnell und sehr sicher wahr nahm. 

Die Gefühle strömte den Menschen manchmal nur so aus den Poren, dachte sie. Sie konnte es im übertragenen Sinn förmlich riechen und sie konnte es ihnen ansehen. Oft reichten ihr wenige Blicke oder wenige von ihnen gehörte Worte, um zu wissen "woran sie bei ihnen war". 

Diese Art der Wahrnehmung war eine zutiefst intuitive Art der Wahrnehmung. Es war oft, als habe sie einen intuitiven Zugang zu umfassendem Wissen. Und, so überlegte sie, war das wahrscheinlich auch genau so. 

Auf eine wunderbare Weise verband sich das Chaos an Eindrücken in einem unterbewußt existenten Bereich zu reinem Wissen. Diese Verbindung war nicht immer da, sie war oft auch nicht gleich abrufbar, vor allem nicht, wenn man sie für Erkenntnisse über sich selbst nutzen wollte, dachte sie lachend. Aber es gab sie und man konnte diese Fähigkeit trainieren, das war ihr aufgefallen. 

Je mehr sie sich mit ihrer Intuition beschäftigte und vor allem ihrer intuitiven Wahrnehmung Glauben schenkte, desto leichter, schneller und besser lief es damit. 

Eine derart intensive Art der Wahrnehmung hatte natürlich aber auch seine Schattenseiten. Die Hochempfindlichkeit führte nicht eben selten zur Überempfindlichkeit, die dann durch die Überreizung der Sinne in einer Überlastung des Körpers gipfelte.   

Das hatte sie früher immer nicht verstehen können, hatte sich mit anderen verglichen und gemessen ob sie in irgendwas "weniger" war. Weniger belastbar, weniger stabil und dergleichen. 

Negativorientiert und künstlich klein gehalten durch ihre Adoptivmutter suchte sie dann den Fehler bei sich. Sie war halt einfach zu empfindlich, zu weicheierig. Sie müsste sich einfach nur mehr Mühe geben, dann könne sie wie die anderen bestehen und alles (er-)tragen, körperlich wie seelisch betrachtet. 

Und was sie da vermeintlich so alles wahrgenomnen hatte, mei, das sei halt Quatsch und Unsinn gewesen, das habe sie sich eingebildet oder hineininterpretiert in die Situation, das hätte so garnicht stattgefunden und sei ein Gespinst ihrer überreizten Nerven, sie sei eben ein "labiler Typ Mensch", hieß es oft. Und sie mache sich ja sowieso auch immer viel zu viele Gedanken um alles, sie solle mal mehr abschalten, dann würde sie auch ruhiger werden.   

In ungefähr 80-90% der Fälle bestätigte die spätere Entwicklung der Dinge ihre Wahrnehmung. Das war natürlich der Kollege Zufall, hieß es dann. Ja, es war wirklich oft zum Mäuse melken, dachte sie leicht frustriert. Manchmal dachte sie, das sie verdammt war, soviel wahrzunehmen. Das dachte sie insbesondere bei allen traurigen und verstörenden Erlebnissen, wenn die Wellen der Emotionen über sie hinwegstürmten und drohten, sie wieder mal von den Füßen zu reissen und in einem gigantischen Sogeffekt mit sich zu zerren, das sie innerlich nur so taumelte, als sei sie unversehens in einen reissenden Sturzbach geraten. 

Aber dann dachte sie an die vielen schönen Momente der überbordenden Freude, die ihr diese Sinnes- und Seelenintensität eben auch bescherte und schnell besann sie sich, das es eine Gabe war, ein Talent, ein Geschenk des Lebens an sie, eine spezielle Ausrüstung und Befähigung durch die Natur war.  Und in solchen Momenten, wenn diese Sichtweise überwog, war sie ein sehr glücklicher Mensch und erfüllt von leuchtender  Freude. 

Es kam eben auf die Sichtweise an, resümierte sie für sich und das Glas sollte ab dieser Erkenntnis für sie immer halb voll sein. Denn nun wusste sie, was das war, diese HS, das sie schlicht die Bezeichnung für das verborgene Talent war, das sie immer schon in sich gespürt hatte und das es andere Menschen wie sie gab und das es nichts zu sagen hatte, das der überwiegende Teil der Menschen sie früher nicht verstanden hatte und oft auch nicht verstehen wollte oder konnte, weil sie abtaten, was ihnen anders und skurril war, vielleicht auch Angst machte.  

Sie wußten es nicht besser. In ihrer Welt erlebten sie anders, reduzierter als sie. Der überwiegende große Teil der Menschen (circa 80-85%) verfügte über Filter, die sie nicht hatte. 

Und so war sie nach ihrer Entdeckung, das es sowas wie eine Hochsensibilität oder/und Hochsensitivität gibt, froh ihrem Anderssein einen Namen und damit auch eine Erklärung und Einordnung geben zu können. 

Erleichtert schaltete das überstimulierte Gehirn langsam aus dem Turbogang zurück in den Normalmodus des dahinplätschernden Alltages. 

Es war ihr gelungen zu erkennen und zu verstehen und das brachte immer auch ein Gefühl der Erleichterung, ja sogar der Befreiung mit sich. Nun, da diese Empfindungen eingetreten waren, weil es ihr gelungen war, das Thema für sich betrachtet am Schlafittchen zu packen, konnte sie erschöpft und müde schlafen gehen. Und Morgen war ein neuer Tag. 


Pat - 20.08.2015 Part I
         31.10.2016 Part II - publiziert 

Tags: Kurztext, Kurzgeschichte, HSP, HS, GedankenWelt, Sie

Sonntag, 15. Mai 2016

In der Stille des Morgens [Kurzgeschichte]


In der Stille des Morgens 


Ich liebte es nun in der Stille des zarten Morgens zu schweben. Die klare Luft einzusaugen und mich über das gute saubere Gefühl dabei zu freuen. Ich liebte nun die Stille und die Ruhe, die Momente bevor die Welt um mich erwachte und lärmend in Raserei verfiel. 

Wo ich zuvor lange Zeit meinen Blick abgewandt hatte, suchte ich ihn nun. Ich wollte wieder sehen, ich wollte alles Das um mich herum still aufsaugen und das Lebendige wieder in seiner reinsten Form einatmen. 

So stand ich des Morgens bewundernd und berührt an der großen Glastür und sah hinaus in mein kleines Paradies. 

Ich beobachte das hüpfende und dabei um sich herum sichernde Amselmännchen mit dem leuchtend gelben Schnabel auf seiner Futtersuche; ich sah die beiden Kohlmeisen, die am Boden nach den kleinen Samenkörnern der Gräser pickten und zwischendrin, beim balgen um die besseren Futterplätze, ihre Flugkünste darboten. Sie präsentierten sich im Flug auf eine verspielte und anmutige Weise, die voll von angenehmer Leichtigkeit war und dies war einer der Gründe, warum ich ihnen so gerne zusah, wenn sie auftauchten und sich wirbelnden Artisten gleich in kleinen Schwärmen im Flug aus dem Nistbaum stürzten. 

Als nächstes beobachtete ich unseren Kater, der schnellen Fußes unserem Garten in Richtung eines seiner Mie-Orte zustrebte. 

Mie-Orte sind Plätze, an denen er sich sicher und safe fühlt. Zumeist sind sie etwas weiter oben gelegen, auf einem Tisch beispielsweise oder einem Fenstersims, nahe der Hauswand. Die meisten von Ihnen werden den Begriff "Mie" wohl noch von früher aus Kinderspielen kennen. Mie war immer der Ort an dem einen niemand mehr anticken oder abzählen durfte. 

Es machte mich lächeln zu beobachten, wie unser Kater ganz selbstverständlich seiner Sicherheitszone zustrebte und ich fragte mich sinnend, was wohl hinter seinem schlanken Fuß stecken möge.

Also wandte ich meinen Kopf nach links und blickte suchend aus der leicht offenen Glastür heraus, und - 

- ja, da sah ich den Verursacher dieser Flucht auch schon und schmunzelte. Nicht weit entfernt von meinem point of view stand eine "Katze". Verstehen Sie dies bitte nur als geschlechtsneutrale Artbezeichnung, denn das tatsächliche Geschlecht dieses Katzenwesens blieb mir bislang verborgen. In einem anmutig wirkendem schwarzbraunem Pelz, der dezent in der Morgensonne glänzte und schimmerte, stand sie da in der Morgenluft des frühen Tages. 

"Ein Rivale oder eine genervte Herzensdame", fasste ich die Situation für mich zusammen. 

Unterdessen saß unser Kater schon auf dem Gartentisch, einem der Mie-Orte an dem er sich nahezu absolut sicher fühlte. 

Von hier aus konnte er die schwarzbraune Schönheit mit dem glänzenden Fell gut sehen und würde sie es wagen sich ihm tatsächlich weiter zu nähern, dann wären nur zwei kurze Sprünge nötig, um auf die Fensterbank zu gelangen. Dorthin hatte ihn in all den Jahren (und das waren nun schon einige, denn er war ein Kater in den besten Jahren) nur ein einziges Mal ein Kater zu verfolgen gewagt. 

Das war der damalige "Platzhirsch" unter den hiesigen Katern gewesen; ein sehr mutiger und dominanter Katertypus, der ihm damals nicht nur auf das äußere Fensterbrett nachkam, sondern ihm dort noch als Dreingabe seines 'Besuches' eine dampfende und sehr persönliche Botschaft hinterlassen hatte. 

Währenddessen hatte unser Kater bereits mit einem weiteren Sprung sein Haupt-Mie, unsere Wohnung, anvisiert und beobachtete dieses Geschehen nun; wütend mit einem Blick, oben vom Fenster herunter, auf dem er damals balancierend hockte. Er ließ dabei den aufdringlichen fremden Kater nicht aus den Augen und knurrte ihn wütend an. 

Die meisten Katzen gaben stets schon VOR dem Garten auf und nur wenige trauten sich überhaupt IN den Garten. Er durfte sich also, was die schwarzbraune "Katze" anbelangte, entspannt fühlen, denn er war hier sicher und er wußte das, aus der damaligen Erfahrung mit dem "Platzhirsch". 

Die schwarzbraune Schönheit hatte inzwischen eine Art Aktionspause eingelegt und ich nehme an, das sie erstmal vorsichtig die Lage peilen wollte, bevor sie sich für die weitere Vorgehensweise entschied. Sie saß nun dort, wo sie eben noch stand, in abwartender und überlegender Haltung und dann aber trollte sie sich entschlossen in die entgegengesetzte Richtung von dannen. Damit war der "Katzen-Krimi" also jetzt beendet und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder weg von der Beobachtung der Katzen. 

Mein Blick erfasste erneut das wunderbare und vor Leben strotzende Frühlingsgrün, das sich vor meinen Augen in Gestalt von Gräsern, Büschen und Bäumen ausbreitete. Dieser Ausblick, den ich inzwischen so sehr lieb gewonnen und in mein Herz geschlossen hatte. Wenn man in sich selbst versank und inmitten dieses Grüns stand.. ja, dann konnte man denken, das man in einem kleinen, sehr kleinen Wald stand. Ich zog die klare und regenfrische Luft tief durch die Nase in die Lunge und - atmete Wald durch die leicht geöffnete Glastüre. 

Noch einmal schweifte mein Blick zärtlich über die Natur, die dort draußen ausgebreitet vor meinen Augen lag. Meine Aufmerksamkeit streifte die Morgenszenerie kurz ein letztes Mal, als ob ich Abschied nähme von dem Anblick. Und das tat ich wohl auch, für den Moment. 

Dann richtete ich meinen Blick zurück in den Tag und in das Hier und Jetzt und machte mich lächelnd und beschwingt an die Zubereitung des Morgenkaffees. 

Ich liebte es nun in der zarten Stille des Morgens zu schweben. 


- Ende - 


Pat - 15.05.2016, 10:50h 

Tags: Stille, morgens, Kurzgeschichte, Geschichte, Sie 

Freitag, 15. April 2016

Im Krankenhaus - Tag 2 (Charlotte spricht)



Im Krankenhaus - Tag 2 

(Charlotte spricht)


Charlotte spricht. Meistens mit Menschen aus der Vergangenheit, manchmal mit Gott und hin und wieder gelingt es einer Pflegekraft Charlotte in ihrer Welt zu erreichen, dann spricht sie mit ihr. Mit mir spricht Charlotte nicht. 

Manchmal singt Charlotte auch, mit erstaunlich fester Stimme und voller Inbrunst. Alte Lieder aus einer vergangenen Zeit, die manchmal doch etwas sehr zackig anmuten und damit dann ungute Gefühle bei mir erzeugen. [Charlotte ist Jahrgang 1928]

Manchmal unterbricht Charlotte ihre geisterhaften Gespräche um amüsiert, fröhlich oder böse zu lachen; oder - je nach Situation - bitterlich zu weinen.

Manchmal schimpft sie auch laut, dann wieder klagt sie oder greint. Oder sie betet zu Gott um ihren Abschied, dass er sie doch bitte gut aufnehmen möge und das sie seine Gnade erflehe. 

Charlotte erlebt ihr Leben quasi noch einmal. Sie erlebt inzelne Situationen und Begebenheiten, mit den sie damals umgebenden Menschen. Sie erlebt sie sozusagen im Zeitraffer. 

Charlotte gibt ihre letzten Auftritte auf der Bühne des Lebens und ich sitze als ihre Bettnachbarin im Publikum und lausche, mal gewollt, mal ungewollt. 

Gestern hat Charlotte mir Angst "gemacht", ihr Verfall, die Verwirrtheit, der nahende Tod. Ich war nicht auf eine Bettnachbarin wie Charlotte vorbereitet, ihr Anblick erschreckte mich. 

Inzwischen kann ich sie mit festem Blick ansehen und ich spreche manchmal sogar mit ihr, frage ob sie etwas braucht oder sage ihr etwas. 

Mit mir spricht Charlotte nicht. 

Für sie bin ich in etwa so interessant wie ein Möbelstück. Sie weiß, das es mich gibt, aber - wie es scheint - weiß sie nicht, wer ich bin oder was ich hier tue. 

Für mich ist das so in Ordnung und für Charlotte anscheinend auch. 

Charlotte und ich, wir ergeben zusammen 140 Jahre gelebtes Leben.

So viele Jahre auf der Waagschale der Zeit. Diese Zahl beeindruckt mich. 
Und Charlotte berührt mich irgendwie. 

Obwohl sie nicht mit mir spricht.

- Ende - 


Pat - 15.04.2016, 21:57h 

(eine kleine Geschichte aus der Reihe "imKrankenhaus") 

Donnerstag, 14. April 2016

Im Krankenhaus - Tag 1 (Charlotte)


Im Krankenhaus - Tag 1

[Charlotte]


Neben mir liegt der Verfall in Form einer alten Dame, die sich langsam in den Tod schläft und röchelt. Charlotte's Haut ist violett verfärbt und geschwollen. Ein Mann sitzt ihr still bei und nimmt - so fühlt es sich an - leise Abschied. 
Anblick und Szenerie gruseln mich. 

Dank der Hochsensibilität sind meine Sinne zum zerreißen gespannt, ich habe unruhige Stunden hinter mir. Links von mir blubbert eine Art Plastik-Wasser"bong", das an einem Sauerstoffanschluß hängt. Von dem "Bong" führt ein Schlauch zu Charlottes Nasenlöchern. Das wird wohl ihr Beatmungsschlauch sein.

Ich überlege wie alt Charlotte wohl sein mag. Ihr Gesicht ist stark verquollen und es ist schwer ihr Alter einzuschätzen. 

Ich denke das sie 70 oder 80 Jahre alt sein könnte. Sie könnte aber ebensogut auch 90 oder gar 100 sein, es ist mir nicht möglich eine profunde Schätzung hinzubekommen.

Mit Charlotte geht es wohl bald zu Ende. Es klang so heraus, ich konnte es einem Gespräch entnehmen, als hätte sie das wohl auch gewußt und auch eigentlich nicht mehr ins Krankenhaus gewollt. 

Arme Charlotte, am Ende deines Lebens bist du allein. Zurückgelassen und ohne Angehörige liegst du hier einsam im Sterben. Nur das Blubbern des "Wasserbong" für deinen Sauerstoffschlauch ist zu hören und dann bin da noch ich, im Bett neben dir. Und es gruselt mich. 

Es gruselt mich, weil Verfall und Tod mir gerade sehr nahe sind. Mir insgesamt wieder mal beängstigend nahe gekommen sind. 

Verfall und Tod, Kräfte - unsichtbar und sehr real, im Bett neben mir auf Charlotte lauernd; wie zwei Brüder, die Hand in Hand arbeiten, im Team. Erst tut Bruder Verfall sein Werk und öffnet dann damit Bruder Tod die Tür. 

Es gruselt mich, weil ich es traurig finde, dass Charlotte am Ende ihres Lebensweges so ganz allein zu sein scheint; bis auf den Pfarrer aus dem Altenheim, der still an ihrem Bett sitzt.

Es gruselt mich, weil ich mich - wieder mal - frage, wie mein Ende wohl aussehen wird. Werde auch ich irgendwann einsam und verlassen in einem Krankenhaus vor mich hinsiechen, bis ich den verfallenden Körper verlassen darf? 

Wird es weh tun und wieviel werde ich dann noch von all dem mitbekommen?

Werde ich vor mich hindämmern oder bis zuletzt mit einem scharfen und analytischen Verstand "gesegnet" sein? 

Charlotte schnarcht röchelnd. 
Ich atme schwer. 


- Ende - 


Pat - 14.04.2016, 17:01h

(eine kleine Kurzgeschichte aus der Reihe "imKrankenhaus") 

Samstag, 19. März 2016

Sturmtochter [Kurzgeschichte]


Sturmtochter (illustriert von ColibriComics)
Dieses Bild wurde illustriert von @ColibriComics

Sturmtochter 

(Eine kleine Geschichte aus der Reihe "meditatives Schreiben")


Der Sturm, er tost ums Haus, wie auch inwendig, in mir.
Er bebt und ächzt und zittert - und lebt!
Ein gar eindrucksvoller Bote ist er mir.

Eine Stimme kündet von Liedern, die seit Generationen nicht gehört. Sie stammen aus längst vergangenen Zeiten und erklingen als kaum hörbare Laute.

Hey! Ohr, Du! Öffnest du dich für den Klang der Sirenen, oder tust du es besser nicht? 

Doch schon ist es geschehen. Oh Schreck. Kaum ward das Ohr gefragt, ob's hören möge, oder nicht... ?! 

Da ists auch schon vorbei mit des Ohres Entscheidungsfreiheit - das Gehirn übernimmt und öffnet die Tore, um die Klänge einzufangen... und! ... *aufgeregt flattert die Seele im Kreise herum..* 

... (die Erzählstimme ist in Aufregung und Wallung) ... 

..nun dringen sanft die Schallwellen ein und nehmen mich, auf eine leise Weise, mit auf die Reise.. wohin.. ja, wohin? 

... (die Erzählstimme wird ruhiger und sanfter) ...

Sie weiß nicht ob sie den Sirenen lauschen soll. Sind es gute Geschöpfe oder wollen Sie einen nur locken, das man in Ihre Falle, gar in Ihren Bann gerate? 

Bange Fragen stehen im Raum. 

(vorläufiges Ende am 02.01.2016, 02:26h) 

Doch dann lässt Sie sich tragen, fliegt auf luftigen Schwingen und mit der leisen Melodie mit. Sie zaudert nicht länger und fliegt mit dem Sturme mit. 

Sie bebt wie er, ächzt wie er inwendig und erzittert dabei. Und Ihre Schwingen werden der machtvollen Urkraft gewahr. Sie vertraut sich nun an und ist frei. Frei wie der Sturm. 

Nun kann nichts Sie mehr aufhalten, das Banale und Alltägliche vermag Sie nicht länger an sich zu binden. Es ist inwendig, wie außen. Kein Unterschied mehr. Sie ist eins mit dem Sturm, IST sie jetzt der Sturm? 

Ihre Schwingen streichen machtvoll und doch sanft durch Baumkronen, ziehen und rütteln an den Ästen. Ein Baum lässt, Ihr wie zum Gruße, ein tiefes Brummen hören, während Sie bereits auf dem Weg ist, weiter hinaus, ins Nichts und Alles zu fliegen. 

Die Menschen fürchten den Sturm, denkt Sie noch. Seine Kraft macht ihnen Angst, weil er die, die sich ihm in den Weg stellen, zerschmettern und zerstören kann. Doch wie auch das Feuer oder das Wasser Vernichtung und Tod bedeuten können, führen sie doch im Gepäck neues Leben mit. Indem das Alte zerstört wird, wird Raum frei für Neues. Aus dem Alten sprießt und erwächst das Neue. Und statt sich gegen den Sturm zu wehren, kann man mit ihm fliegen.

Mit diesem Gedanken gleitet Sie langsam in einen erholsamen Schlaf. 

- Ende - 


Pat - 03.01.2016 - 12:51h


Wissenswertes zum Text:

Diese Erzählung entstand in 2 Akten. Ich lag zu später Stunde müde und erschöpft im Bett und lauschte auf den Wintersturm draußen, auf seine Geräusche. Gedanken quollen und verbanden sich mit inneren Bildern. (Seelenbildern) Also schnappte ich mir mein Handy und schrieb sie trotz Müdigkeit und brennenden Augen in einem 1. Teil nieder. (siehe Datumsangabe)

Am Morgen danach griff ich den Faden wieder auf und schrieb den 2. Teil. 

Der Text wird von mir als Mix aus Phantasie, Seelenbildern und Naturgeschehen verstanden. Ich empfinde ihn selbst als etwas "schräg" und andererseits mag ich ihn, weil er aus der Reihe meditatives Schreiben stammt. Seine Art des Aufbaus und des Stil's betrachte ich als Experiment. Und wenn er vielleicht also ein schräges Experiment ist, so macht das nichts, es gibt ja noch einiges andere Schräge hier, da befindet dieser Text sich in guter Gesellschaft. ;-)

Deutungshoheit und Interpretation der Geschichte überlasse ich euch, den geneigten Leser*innen. 

Pat - 02.-04.01.2016



P.S.: Nachdem ich diese Geschichte geschrieben hatte, suchte ich nach einem dazu passenden Bild, am besten eines, das dem nahe kommen könnte, das ich innerlich sah, wenn ich an diese Geschichte dachte.. Also schrieb ich eines Tages mit der ColibriComics auf Twitter (einer lieben Bekannten, die gern und gut zeichnet -> siehe Website) und fragte sie, ob sie vielleicht das Bild, das ich innerlich sah, umsetzen könnte, damit dieser Eintrag eine Einheit in Wort und Bild bilden könne... und sie war so nett und sagte ja, und so entstand dieses Bild, das erste Bild, das exclusiv für das MrsLevia Blog gezeichnet wurde. (An dieser Stelle bitte ganz viel *Glitzer* vorstellen.. und einen *Tusch*. ) ;-)

Liebe S., ich möchte Dir hier nochmal meinen aufrichtigen Dank für die Umsetzung sagen und dafür, dass du mich angehört hast. Vielleicht sehen wir hier bald noch mehr von dir.

Pat, 12.04.2016

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Tags: meditativesSchreiben, nachgereicht, Geschichte 

Sonntag, 28. Februar 2016

Im Haus der unendlichen Türen [Kurzschichte]


im Haus der unendlichen Türen

[Eine kleine Geschichte]


Sie durchschritt das Haus der unendlichen Türen und Räume und wanderte durch endlose Flure und Jahrzehnte dauerte ihre Reise, gemessen an Erdenjahren.

Jede Tür hatte eine andere Farbe und Beschaffenheit und in jedem Raum fand sie etwas anderes vor, nichts war doppelt vorhanden. Kein Raum gleichte dem anderen und doch waren sich wiederum manche recht ähnlich. So wanderte sie zeitenlos und ungestört. 

Einige Räume schienen fast leer und ihr Inhalt verborgen zu sein; andere waren scheinbar voll und ließen sie Offensichtliches finden. Ein Raum war blitzsauber, ein anderer war staubig, einer einfarbig, wieder ein anderer war bunt und so setzte es sich unendlich fort. 

Sie wandelte im Gestern der Vergangenheit ebenso wie im Jetzt der Gegenwart. Und ja, bei einigen Türen ließ sich auch ein Blick auf das Morgen der Zukunft erhaschen. 

Und dann fand sie diese eine Tür. Diese, die zu dem Einen allumfassenden Raum führte, der unendlich und zeitlos ist und in dem Alles nichts ist und in dem Nichts alles ist. Und sie seufzte aus tiefstem Herzen auf. Sie war da. 


Pat - 22.02.2016, 23:55h 
(inspired by @gegburo) 

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Tags: meditativesSchreiben, Selbsterkenntnis, Geschichte, Kurzgeschichte, nachgereicht

Donnerstag, 25. Februar 2016

Wolken [Kurzgeschichte]



Wolken

 

(Goldenes Licht - eine kleine Geschichte)



Für einen Moment war das Licht golden in den letzten Wintersonnenstrahlen dieses Tages. Golden tauchte es einer Verheißung gleich alles in einen warmen leuchtenden Schein  und riesige Wolkengebirge aus allen Schattierungen zwischen leuchtend weiß und tiefgrau zogen über mir vorbei. Sie schwebten träge über den Horizont und zeitlos ihrem Bestimmungsort entgegen. Ach, wie gerne würde ich mit euch ziehen! Ihr seit frei zu gehen, wohin euch der Wind führt! Und was habt ihr wohl schon alles gesehen auf eurer Reise, ging es mir unwillkürlich durch den Kopf. Und wie mag es für euch wohl erscheinen: unser Land, unsere Erde, unsere Welt, über die ihr während eurer Reise hinwegzieht? Ihr seht alles, dachte ich, und wir Menschen müssen euch wie ein riesiger, wimmelnder, weltumspannender Ameisenhaufen vorkommen. Ihr seht das kleine Haus, da draußen irgendwo, wie es einsam und bescheiden an einem Felde steht; so wie ihr über Städte, Villen, Mietshäuser und über die riesigen glänzenden Fassaden der Bankentürme hinweg zieht. Ihres Zeichens Monumente der Menschheit, die protzig von des Menschen Reichtum und Besitz künden. Sowas wie irdischer Besitz gilt euch Wolken nichts und euch ists einerlei über was und wen ihr auf eurer Wanderung zieht. Ihr schwebt über Gebirge voller Wunder, über grüne lebendige Täler, über Flüsse, Wüsten und Meere und gleitet gleichmütig über das Antlitz geschändeter und durch den Menschen gequälter Natur hinweg, über tote und vergiftete Landstriche. Für euch ist das einerlei. Ihr werdet noch wandeln, wenn wir Menschen längst nicht mehr sind. Bestimmt lächelt ihr, während ihr über unsere menschgemachten Realitäten schwebt. Können Wolken lächeln? Ja, ich glaube dass sie das könn(t)en. Wäre ich eine Wolke, so würde ich wohl lächeln. Darüber, dass wir Menschen dazu neigen, unser Leben so furchtbar ernst zu nehmen und auch darüber, wie wir gefühlsgetrieben und verloren in Scheinsicherheiten all die Schönheit und Pracht um uns nicht mehr sehen und immer nur noch mehr besitzen wollen. Höher, weiter, schneller lautet die Devise, für die wir scheinbar bereit sind alles zu tun. Ach, wie traurig das für uns ist. Unermesslich ist der Verlust, den wir selbst kaum bemerken. Ohne es zu ahnen verlieren wir das Wertvollste: Unsere Einheit mit der Natur und allem uns Umgebenden, dem Lebenden an sich, allem Dagewesenen und allem Kommenden. Und so möchte ich an diesem Tag eine Wolke sein und mit ihnen gemeinsam den Himmel bereisen.


Pat - 24.02.2016, 17:52h

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Tags:  Achtsamkeit, Gedanken, Gesellschaft, Geschichte, Kurzgeschichte, meditativesSchreiben



Montag, 26. Oktober 2015

Der Sohn der Vogelfrau (Erlebnis eines Mißbrauchs) [Erzählung]




Der Sohn der Vogelfrau

[Schilderung und Erleben eines Mißbrauchs]

Ich möchte heute über etwas sprechen, von dem es nicht leicht fällt zu sprechen. Nun, das tut es mir jedes Mal nicht, wenn ich über derlei spreche, wird mir gerade klar während ich diese Worte in mein Handy tippe. Aber in diesem Fall ist die Sache doch noch etwas anders gelagert.

In Bezug auf die Themenwahl geht es seit langem wieder richtig an's Eingemachte. Ich möchte auf ein Erlebnis von vor langer Zeit zurückgreifen, weil ich es für prägend erachte. Ich werde es aus der heutigen Distanz neu erleben und dieses dann hier schildern.

Ich war 11 Jahre alt, wir hatten das Jahr 1974 und ich wohnte in Hamburg Bramfeld.
Ich habe bisher nur im engsten Kreis über das gesprochen, was damals vorfiel und hatte dann immer auch mit meinen Emotionen zu kämpfen.

Kurioserweise weiß ich nicht einmal genau, wie man dieses Erlebnis nennt, in welche Schublade man es zum Beispiel im strafrechtlichen oder psychologischen Sinne heutzutage einordnet. Das ich das nicht weiß, liegt wohl daran, das ich nie wirklich offen darüber gesprochen habe, außer wie gesagt mal im allerengsten Kreis. Aber was es ist oder nicht ist, darauf komme ich am Ende noch zu sprechen. Jetzt möchte ich die Geschichte einfach erstmal erzählen.

Wir erinnern uns, ich war ein Jung-Teenager von circa 11 Jahren. Ich denke, es war die Zeit in der der Trouble langsam richtig anfing zuhause, aber das hat hier nicht viel zu heißen, für den Moment kann man es als nachrangig betrachten. Ich wohnte also mit meinen Adoptiveltern und meiner Oma zusammen. Wohntechnisch war es nett dort. Kleine Hausabteile, in jedem 2 Wohnungen, eine oben, eine unten, 5 dieser Abteile in einer Reihe ergaben ein Reihenhaus. Die untere Wohnung hatte einen kleinen Garten samt Terrasse. Ein soweit idyllisches Fleckchen in Bramfeld, überwiegend von Arbeiterfamilien bewohnt. Gebaut wurde die Siedlung irgendwann in den Sechzigern. Man kannte sich dort mehr oder minder lasch untereinander, doch jeder wußte in etwa, was der andere machte. Wir lebten im Jahr 1974. In der Schule war ich in der 6. Klasse, noch Beobachtungsstufe, auf dem Weg zur Realschule. Soviel zu den äußeren Umständen.

Ich war draußen unterwegs, es muss am frühen Nachmittag gewesen sein. Das erkenne ich am Lichteinfall in den Szenen, an die ich mich gut erinnere. Erstaunlich, wo dies nun schon rund 40 Jahre zurückliegt.

Ich glaube, ich hatte nichts spezielles zu tun und streifte auf der Suche nach Ablenkung gelangweilt durch die Park ähnlichen Grünflächen zwischen den Häusern. Manchmal konnte es dort sehr sehr langweilig sein. Wenn ich niemanden zum spielen fand, war es geradezu zum Sterben langweilig.

Auf meinem Streifzug traf ich eine ältere Frau, die ungefähr 50 Jahre alt war. Ich kannte sie unter der Bezeichnung "Vogelfrau", weil man sie oft und zumeist eingehüllt in altmodische Altfrauenklamotten, im Herbst und im Winter Fettbälle und ähnliches Vogelfutter für die Vögel aufhängen sah. Vielleicht machte sie das auch ganzjährig, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß noch, das man sie oft dergestalt durch die Büsche krauchen sah. Sie hatte unter anderem wegen diesem Verhalten einen sonderbaren Ruf. Nichts genaues wußte man von ihr, aber sie wirkte schon etwas seltsam, wenn man sie, oft leise Selbstgespräche führend, durch Äste und Zweige knacksend im Unterholz sah und manchmal ehr hörte als sah. Sie war allen etwas unheimlich und ich glaube man sprach im allgemeinen nicht mit ihr, das wurde seitens der Eltern wie der Nachbarschaft so gehandhabt, als hätten sie sich still darauf verschworen, daß man mit so einer, wie sie es war, nicht sprach. Sie war den Leuten seltsam und unheimlich und man hatte nichts mit ihr zu tun (zu haben).

Wie es der Teufel will (verzeihen Sie mir bitte diese Phrase) fehlt mir jetzt ein kleines Stück Erinnerung, denn ich weiß noch genau, daß man sich besser nicht mit ihr einließ (so ja das einhellige Credo), aber ich sehe mich im nächsten Moment mit ihr ins Haus und zu ihrer Wohnung gehen. Sie hatte mir einen heißen Kakao angeboten. Und ich ging, trotz eines tief in mir sitzenden Zögerns, dann doch mit. Obwohl ich es eigentlich nicht wollte. Erstaunlich, da fehlt wirklich ein ganzes Stück in meiner Erinnerung, aber davon wollen wir uns jetzt nicht irritieren lassen.

Die Vogelfrau hatte es also irgendwie geschafft, das ich sie mit der Aussicht auf einen heißen Kakao als harmlos einstufte und mit ihr mitging. Vielleicht hatte meine Langeweile, als ich auf sie traf, auch ihren Anteil daran, daß ich letztlich trotz des Zögerns doch mitging.

Die Wohnung muss im dritten oder vierten Stock gewesen sein und der Eingang ging von einem der Laubengänge ab. Das Haus war eines der vier oder fünf 'Hochhäuser' in dieser Gegend. Es hatte fünf oder sechs Stockwerke. Im mittleren Teil waren die größeren Kernwohnungen und das Treppenhaus. Von dem großen Treppenhaus gingen Holztüren mit Glasfenstern nach links oder rechts zu den Laubengängen (überdachte Außengänge an Häusern) ab und von diesen kam man dann zu den Wohnungseingängen.

Ich sehe das Haus wieder genau vor mir. Ich kannte es gut, weil eine Mitschülerin hier mit ihren Eltern und Geschwistern wohnte. Rund um das Treppenhaus waren die großen Wohnungen gruppiert, sie hatten drei oder vier Zimmer und ein vergleichsweise großes Wohnzimmer mit einer breiten Fensterfront. Diese Wohnungen waren sehr beliebt, es gab lange Wartelisten dafür.

Die von den Laubengängen abzweigenden Wohnungen waren kleiner. Sie hatten nur zwei kleine Zimmer, eine kleine Küche, ein kleines Bad und einen langen, engen Flur. Wir waren also im dritten oder vierten Stock, auf der linken Seite des Gebäudes, von unten vom Hauseingang betrachtet.

Die Vogelfrau schloß die Wohnungstür auf und wir betraten einen langen, dunklen, engen und muffig riechenden Flur. Es roch nach alten Menschen und abgestandener Luft. Gleich links ging vom Flur die kleine Küche ab, deren Fenster wiederum zum Laubengang hinausging.

Die Vogelfrau bedeutete mir, den Flur entlang in Richtung Wohnzimmer zu gehen und mich dort zu setzen. Sie würde sich um den heißen Kakao kümmern und später auch ein paar Kekse mitbringen.

(Während ich das hier aufschreibe, schreit ständig Etwas "Klischee, Klischee!" in mir. Und ich bemerke, daß die Situation tatsächlich im Nachhinein wie ein Klischee erscheint. Doch nehme ich mir in dieser Beziehung keine dichterische Freiheit heraus und beschönige oder dramatisiere etwa die Situation. Noch füge ich etwas Situationsveränderndes hinzu oder lasse bewußt etwas aus. Nein, ich bin gerade ganz in dieser Situation, ich wiederhole sie im Geiste, um mich so gut ich kann zu erinnern und dann versuche ich zu beschreiben, was sich an diesem schicksalshaften Tag ereignete.)

Erinnern wir uns, ich sollte dem Flur ins Wohnzimmer folgen, sie käme dann mit Kakao und Keksen nach.

Als nächstes sehe ich mich einen kleinen, gegen das Nachmittagslicht abgeschirmten Raum betreten.

Rechts neben der Tür steht eine altmodische Bettcouch, sie ist Tageslicht tauglich zusammengeklappt. Vor ihr steht ein Wohnzimmertisch, auf dem eine Wachstuchdecke mit Blumendekor liegt. In der Mitte steht eine alte Steingutvase mit Blümchen. Auf dem Sofa sitzt ein Mann in einem weißen Trägerunterhemd, ich glaube "Feinripp" nennt man diese Art Unterwäsche. Der Mann ist ungefähr 30 Jahre alt. Obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, das er mir vorgestellt wurde, weiß ich das er ihr Sohn ist. Das ist die zweite Erinnerungslücke, die ich habe.

Er sitzt dort also in seinem weißen Unterhemd auf der Couch. Unten herum trägt er passend eine lange weiße Unterhose aus Baumwolle mit Eingriff, im selben Stil wie das Unterhemd. Dann dunkle Männersocken und Hauspuschen. Er begrüßt mich und bedeutet mir, mich neben ihn zu setzen. Dafür rückt er ein Stückchen nach rechts, damit ich linkerhand von ihm Platz nehmen kann. Ich erinnere nicht mehr, was er zu mir sagte. Aber ich erinnere genau, was er kurz darauf tat.

Er ergriff meine rechte Hand, zog sie langsam aber bestimmt zu seinem Knie und legte sie dort ab. Dann versuchte er meine Hand mit seinen Fingern (zu!) vertraulich zu streicheln. Ich wollte das nicht, und zog bei dieser ersten Berührung meine Hand mutig aus der seinen, und brachte sie somit zurück zu mir, auf meinen Oberschenkel. Unsicher wie ich mich nun zu verhalten hätte, blieb ich so sitzen.

Diese Situation war mir ganz und gar unangenehm. Ich wußte nicht wie ich mit ihr umgehen sollte oder konnte. Ich fragte mich, wo die "Vogelfrau" mit dem Kakao bloß blieb. Es konnte doch nicht solange dauern, einen Kakao zu machen? Wenn sie doch nur käme und diese peinliche Situation unterbrechen möge. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst, um mich aus diesem Moment zu befreien, er war mir zum schreien unheimlich, aber die Frau kam und kam nicht und so saß ich da, neben ihm, wie angenagelt.

Alle Stoßgebete brachten nichts, sie blieb in der Küche verschollen, während ihr Sohn inzwischen erneut nach meiner Hand griff.

Wieder nahm er sie, zog langsam aber bestimmt und fordernd an ihr und legte sie auf sein linkes Knie. Dann fing er an meine Hand mit der seinen zu tätscheln und schob dabei gleichzeitig meine Hand in Richtung seines Geschlechtes hinunter, das unter der dünnen Unterhose nur unzulänglich versteckt war. Er legte meine Handfläche darauf, dann schob er meine Fingerspitzen durch den Eingriff ins Innere seiner Hose. Ich konnte sein Genital warm pulsierend unter meiner rechten Hand spüren. Heiße, nackte Haut unter meiner Haut, sehr lebendig und sehr unheimlich. Mit seiner Hand presste er meine Hand auf sich, während er sich gleichzeitig von unten vom Becken her unauffällig in kleinen Stößen an mir zu reiben versuchte. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Berührung mit ihm war mir gänzlich unangenehm. Es war meine erste sexuelle Begegnung und sie war nicht freiwillig sondern durch ihn erzwungen und fühlte sich verstörend an.

Wann immer ich versuchte ihm die Hand unauffällig wieder zu entziehen, hielt er sie nur noch stärker fest, so daß ich nicht freikam. Ich hörte ihn einige Male unterdrückt seufzen, er war sehr erregt.

Ich war in der Situation und ihrer Peinlichkeit gefangen. Ich war nicht imstande auf diese massive Grenzüberschreitung angemessen zu reagieren oder überhaupt bewußt zu agieren. Mir war das alles einfach nur unsäglich peinlich und unangenehm. Es war etwas verstohlenes und heimliches an dieser Situation, das ich nicht durchbrechen konnte. Als einzig passenden übergeordneten Begriff für dieses Erlebnis fällt mir nur ein, das es für mich "overwhelming" war.

Nur wenige Meter vor mir gingen die Fenster des Raumes auf die Grünfläche hinter dem Haus hinaus. Hätte ich dort am Fenster gestanden, hätte ich in Blickrichtung nach rechts hinten unser Haus sehen können, leicht erkennbar hinten einigen Bäumen, die es nebst einem kleinen Gehweg zu dieser Wiese abgrenzten. Zuhause waren meine Adoptivmutter und meine Oma. Mein Vater war nicht da, er arbeitete noch. Vielleicht gerade mal 30 Meter von mir entfernt - also fast in Rufweite - wäre theoretisch Hilfe gewesen.

Aber ich war nicht zuhause und ich stand auch nicht am Fenster. Ich war in der Wohnung der Vogelfrau und saß neben ihrem perversen, leicht zurückgebliebenen pädophilen Sohn auf der Couch und wußte nicht was ich tun sollte. Sowas wie Handy's gab es 1974 noch nicht und ich denke man hatte damals dort in dieser Wohnung auch kein Haustelefon. Damals hatte bei weitem nicht jeder ein Telefon im Haus. Ich war also allein mit ihm und der Vogelfrau und es gab keine Hilfe für mich.

Gehen wäre eine Option gewesen, aber er weigerte sich mich loszulassen. Warum ich nicht anfing zu schreien oder laut zu werden erinnere ich nicht. Es (er!) war mir unangenehm. Vielleicht redete er auch auf mich ein, das ich still blieb. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist ebenfalls, das ich die Schuld dafür bei mir suchte und deshalb schwieg. Ich weiß es nicht.

Als ich schon dachte, daß ich es nicht mehr aushalte, konnte ich ihm durch einen spontanen Ruck doch noch meine Hand entreißen. Danach hatte ich das dringende Bedürfnis seine Mutter ins Spiel zu bringen und rief nach ihr. Sie rief zurück, das sie gleich käme. Sie würde dann für mich der Situationsunterbrecher sein und mit ihrem Auftritt würde ich mich aus dem Bann des Erlebten lösen können. Das wiederum würde mich befähigen, selbst aktiv zu werden und dort zu verschwinden.

Aber als sie erschien sprach der von ihr Angesprochene nicht über das, was geschehen war. Das Geschehene war inzwischen irgendwie, wie von Zauberhand tabuisiert. Als ob es eine stillschweigende Übereinkunft zwischen diesem Mann und mir gegeben hätte, das wir beide über die Geschehnisse schweigen würden, jeder aus seinem Grund. Dem der Scham, dem der Angst.

Jetzt endlich also betrat seine Mutter die "Vogelfrau" den Raum. Mit dem Kakao, aber ohne die Kekse. Sie entschuldigte sich, daß es so lange gedauert hätte, aber die Milch habe ja schließlich auch erstmal heiß werden müssen.

Ich weiß nicht mehr, unter welchen Umständen ich die Wohnung verlassen habe, aber ich denke, das ich den Kakao nicht mehr trank.

Ich wollte dort nur noch raus, das jedenfalls weiß ich noch recht genau. Die Geschehnisse waren sehr verstörend für mich und ich weiß bis heute nicht, was das genau war. Nennt man sowas nun sexuelle Belästigung von Minderjährigen oder ist es sexueller Mißbrauch oder Kindesmissbrauch?

Eigentlich spielt es auch keine Rolle mehr, wie man das Geschehene nennt.
Für mich nenne ich es Mißbrauch, denn dieser Mann hat mißbräuchlich eine Situation ausgenutzt, um sich an mir zu vergehen, was bedeutet, daß er mich missbraucht hat. Er hat mir etwas aufgezwungen und mir damit Unversehrtheit und kindliche Unschuld genommen.

Er hat durch mich und die Berührung mit mir einen Trieb ausgelebt, er hat seinen Trieb zwangsweise über mich und durch mich ausgelebt. Obwohl ich ein Kind war und obwohl er wußte, das ich das nicht wollte. Ich glaube, beides war ihm scheißegal. Oder es hat ihn noch zusätzlich angetörnt. Ich weiß es nicht.

Manchmal habe ich auch überlegt, ob seine Mutter nicht vielleicht genau wußte, was er tun würde. Und ob sie ihm nicht vielleicht bewusst zugearbeitet hatte, indem sie mich dort anschleppte. Für diese Möglichkeit spricht jedenfalls der Umstand das sie lange in der Küche verschwunden war. Angeblich ja nur um den Kakao zu machen.

Ich habe mich von diesem Schrecken nie wieder völlig erholt. Ich habe die Wohnung der Vogelfrau nie wieder betreten und auch nie wieder mit ihr gesprochen. Auch ihren Sohn sah ich zum Glück nie wieder. Ich sprach weder mit meinen Eltern darüber, noch mit sonst jemandem aus meinem dortigen Umfeld.

Es war nichts, worüber ich mit jemandem sprechen konnte. Es war niemand da, zu dem ich genug Vertrauen gehabt hätte und ich wußte auch niemanden mit einem offenen Ohr zu dem ich damit hätte gehen können. Am allerletzten konnte ich mir vorstellen damit zu meiner Adoptivmutter zu gehen. Sie hätte mir nicht geglaubt. Und für den unwahrscheinlichen Fall das doch, wäre ich die Schuldige gewesen, das wußte ich von unzähligen Situationen zwischen ihr und mir.

Mich an jemanden von außerhalb zu wenden, eine Beratungsstelle oder ähnliches, war auch nicht denkbar. Mitte der siebziger Jahre gab es dafür noch kaum ein Bewusstsein und selbst wenn, hätte ich nichts davon gewusst. Denn ich war elf und wußte noch nichts von der Erwachsenenwelt. Die bekam ich nur aus dem Fernseher mit und diese Welt war zahm.

Man wuchs damals in meinen Kreisen nach außen hin recht behütet und beschützt auf. Ich hatte also nicht einmal eine Idee, das es offizielle Stellen geben könnte, an die man sich wenden kann. Geschweige denn das ich überhaupt konkret gewusst hätte, das diese Sache unrecht gewesen war. Das konnte ich lediglich erahnen. Mein Verhältnis zur Sexualität war danach stets zwiegespalten und gestört, aber das ist ein anderes Thema.


- Ende -



Nachtrag:

Mir fiel beim schreiben einiges auf. Ich hatte kleine Ungereimtheiten und teilweise Erinnerungslücken. Daran wird zum einen die Zeit ursächlich sein, zum anderen die Psyche die den Zugang zu mancher Erinnerung offenbar gesperrt hat.

Weiterhin versucht wieder etwas in mir zu sagen, das ich mitschuldig am damaligen Geschehen war. Das ich mitschuldig daran war,  das es sich so entwickelte an diesem Tag. Es sagt so Dinge wie das ich mich mehr hätte wehren müssen oder nicht mit der Vogelfrau hätte mitgehen dürfen und so weiter.

Aber ich glaube dies ist etwas typisches. Opfer tendieren oft dazu sich selbst die Schuld zu geben, vielleicht auch aus dem Wunsch oder Gedanken heraus, mehr Kontrolle (oder überhaupt Kontrolle) gehabt zu haben über das Geschehen.

Ich werde diesen Kreislauf nicht weiter füttern, sondern heute als Erwachsene auf die kleine Levia von damals schauen und sie innerlich liebevoll an die Hand nehmen. Dann werde ich mir nochmal folgendes bewusst machen:

Ich war 11 Jahre alt und ich hatte keine Kontrolle über oder in der Situation. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben mit einem erregten Mann konfrontiert und das nicht aus freien Stücken. Er und seine Mutter, sie waren die Erwachsenen und sie hätten mich schützen müssen. Schützen vor sich selbst. Mich trifft keine Schuld. Punkt.

Ich habe darüber geschrieben, um mich davon zu befreien. Ich wollte es ein letztes Mal erzählen, um mich auf diese Weise bewusst befreien zu können und es dann in die Schublade des Vergessens zu sortieren. Und wenn ich damit vielleicht sogar anderen Betroffenen Mut machen kann, sich mit ihren eigenen Erlebnissen zu befassen und diese dann vielleicht sogar aufzuarbeiten und vielleicht wie ich öffentlich zu machen, auch um damit abzuschließen, dann ist das aus meiner Sicht ein weiterer wunderbarer Effekt dieser Schilderung.

Auf der Suche nach Information zu Kindesmissbrauch bin ich auf diesen Link gestossen:

"Erkennen, Folgen und Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs"
http://www.gegen-missbrauch.de/kindesmissbrauch

Dort wird anschaulich beschrieben, was in einem Menschen vorgeht, der Mißbrauch erlebte. Wer also das Gefühl hat, das er nach dieser Erzählung noch etwas Tiefgang benötigt möge sich dort einlesen. Vielleicht möchten sie sich auch ganz allgemein zu Kindesmissbrauch informieren, dann wäre der Link eine Gelegenheit dazu, ein erster Schritt sozusagen.

Wer sich über mögliche Folgen von Kindesmissbrauch informieren möchte, findet hier Informationen:

"Welche Folgen und Schäden kann sexueller Mißbrauch haben"
http://www.gegen-missbrauch.de/moegliche-folgen

Damit wären wir am Ende dieser Geschichte angelangt. Es ist nur eine von unzähligen in meinem Leben. Und es ist gut daß sie heraus ist. Ich verneige mich vor Leser und Leserin und trete nun ab.


Pat - 25.10.2015, 20-02:57h
        26.10.2015, 12-02h
        26.10.2015, 23:39h [Update-edit]
        26.11.2017 kleine Korrekturen, Ergänzung

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Bramfeld, Erzählung, Kindesmißbrauch, Kindheit, Kurzgeschichte, Mißbrauch, sexueller_Mißbrauch, Vergangenheit, Vogelfrau