Wie hätte ich mich wehren sollen oder können gegen all die schrecklichen Dinge, die mit mir geschahen. Das geht mir immer wieder durch den Kopf.
Wie kann man sich gegen etwas wehren, von dem man nicht weiß, dass es böse und schlecht ist. Wie sich wehren gegen etwas, was doch so normal und alltäglich in deinem Leben geschieht, wie beispielsweise nach dem Essen das Geschirr abzuräumen. Wenn man essen möchte, räumt man halt erst alles dafür Nötige auf und dann räumt man es wieder ab.
Und wenn man geschlagen oder seelisch gedemütigt oder erpresst wurde leckt man sich die Wunden und weint ein bisschen - und weiter gehts. Oder? Wenn einem derlei “Grausamkeiten” wie körperliche oder emotionale Gewalt und Mißbrauch seit der Kindheit immer wieder begegnen, dann findet man es salopp formuliert zwar ziemlich Scheiße und beklagenswert und beides macht einen auch traurig oder wütend, aber: es wurde auch längst zur Routine. Es wurde längst zu einem Aspekt des Alltags. Und natürlich versäumt die gegen einen Gewalt ausübende Person eigentlich auch nie, einem zu erklären warum einem all das zustößt und widerfährt.
Man war nicht artig. Man ist über das Ziel hinausgeschossen. DU wollen ja nicht HÖREN. Und wer nicht hören will, der muß eben FÜHLEN. Und hinter diesen Worten klingt noch leise ein ‘ce la vie” mit an. Unausgesprochen, aber deutlich vernehmbar für die Wahrnehmung.
Es gibt im Nachhinein oft tausende von Begründungen dafür, warum man Schuld wa an dem was einem geschah. Ihnen allen ist eins gemein:
Immer, immer, immer, warst es du allei die die Schuld zu tragen hatte. Immer warst du allein Auslöser und Ursache zugleich für das, was dann mit dir geschah.
Diese Worte arbeiten in einem und man glaubt sie mit der Zeit selbst. Sie graben sich in das gequälte Gehirn hinein, wie ein Kolibri sich mit seinem Schnabel in eine Blüte arbeitet. Bei näherem darüber nachdenken und hinterfragen fallen einem dann sogar noch tausend kleine Dinge und Anhaltspunkte ein, die die eigene scheinbare Schuld zu begründen, zu belegen und zu beweisen scheinen. Im tiefsten Inneren sieht man sich, wie der übergriffige Mensch einen sieht. Und man macht sich sein Bild zueigen.
Natürlich war es die eigene Schuld gewesen, dass man geschlagen wurde. Wenn man sich halt auch so renitent und stur verhielt! Man MUSSTE ja regelrecht zu diesen Mitteln und Methoden greifen, damit man mal wieder kapierte, das es SO nicht geht! Man wollte es nicht anders, klare Sache!
Zum Beispiel die Sache mit der mütterlichen Nähmaschine an die ich damals als junges Mädel unerlaubt geschlichen war und dabei versehentlich die Nadel abgebrochen hatte.
"DIE GANZE MASCHINE HÄTTE DABEI KAPUTT GEHEN KÖNNEN! Oder etwa nicht??! Es war pures GLÜCK gewesen, dass NUR die Nadel abbrach!!11elf!!"
Und so verstehen sie nicht, KÖNNEN sie nicht [mehr] verstehen, dass ihnen da gerade krasse Gewalt angetan wird. Ihre Grenzen wurden und werden einfach niedergerissen. Man trampelt darüber hinweg, fast so als gäbe es sie gar nicht. Diese Grenzen, die sie und ihre [kindliche] Entwicklung und Existenz schützen sollten, sie werden überrannt.
Und so sind sie dann irgendwann weg. Auf diese Art verliert man jegliche schützende Abgrenzung. Das Ich entschwindet. Es löst sich auf und nichts trennt und unterscheidet einen mehr von dem Angreifer. Es ist nichts mehr da. Er hat dich und deine Seele mit Haut und Haar gefressen. Es bleibt nichts eigenständiges mehr fühlbar. Man existiert nicht mehr unabhängig und abgegrenzt von dem, der einem Gewalt und Mißbrauch antut.
[Ich mag das Wort Mißbrauch in diesem Zusammenhang nicht. Man ‘gebraucht’ Menschen nicht wie einem Gegenstand. Aber da ich keine bessere Formulierung dafür kenne verwende ich es in diesem Kontext.]
So ist dieser Zustand also längst zum Alltag geworden. Und man hat es doch auch ‘verdient’, weil man Fehler gemacht hat. Verdient, weil man nicht wie erwartet funktioniert. (Als ob man so eine Funktionsmaschine wäre, deren Lebenszweck nur der ist, dem Gegenüber dienlich zu sein oder seinen Erwartungen und Ansprüchen zu entsprechen. Allein daran hätte man erkennen können, dass da etwas komplett schief läuft, wenn.. ja wenn man all diese kranken Muster damals schon durchschaut hätte.)
Sie verstehen nicht, was da geschieht. Sie können diese ganze kranke Scheiße nicht blicken. Man hat sie festgenagelt auf IHRE SCHULD und IHRE Scham. Und ganz allein an IHNEN liegt es, an IHREM Verhalten, ob sich dies jemals ändern würde. Schließlich sei man ja kein Unmensch und quäle gerne sein Kind [ersatzweise: Frau, Mutter, Schwester, Geliebte, Freundin etc.pp.] sondern verfolge mit der “strengen Erziehung” oder strengen Behandlung ihrer Selbst lediglich Besserung ihrer Fehler und das ausmerzen ihrer schlechten Charaktereigenschaften.
Und wo sie so drüber nachdenken was man ihnen sagt klingt das doch auch zunehmend alles irgendwie einleuchtend, nicht wahr?
Sie lassen sich die Worte durch den Kopf gehen, wieder und wieder, in endlosen Kreisen in ihrem Kopf,
und sind dann am Ende so verunsichert, daß sie nicht mehr wissen wo oben und unten ist und wo links und rechts und da man sich schließlich an irgendetwas festhalten und orientieren muss: warum denn nicht an den Worten ihres Peinigers, wo sie doch so überzeugt und selbstsicher von ihm oder ihr vorgetragen wurden?
Wie hätte ich mich wehren sollen und können gegen etwas, was für mich “normaler” Alltag war. Wie hätte ich verstehen können, was damals wirklich geschah.
Zwei große Fragen.
Pat - 15.06.2017, 00:43h
Tags: Fragen, gefangen, Gewalt, Mißbrauch, Trauma
"Wie hätte ich mich wehren sollen?"
AntwortenLöschenich stand ohnmächtig der Willkühr der Eltern, der Lehrkörper und überhaupt den Erwachsenen gegenüber. Zuweilen genügte ein Blick zur falschen Zeit in die Augen meines Vaters, der sich just in dem Moment an der Schreibmaschine verschrieben hatte. Es war meine Schuld, weil ich ihn ansah. Der Schlag ins Gesicht und der Verweis aus dem Zimmer folgte. Nur ein Beispiel von Unzähligen. Als Kind hatte ich keine Chance, mich zu wehren. Kein Kind kann sich gegen Mißhandlungen und Ungerechtigkeiten wehren. Die Frage lautet eher: Was lerne ich daraus, inwieweit prägt es mich und warum geschah diese Willkür?" Ohne Selbstreflektion fährt man auf den Schienen weiter, die uns seit der Kindheit tragen und praktizieren diese Willkür der Gewalt an unsere Kinder, Ehefrau und eventuell an Mitmenschen. Mein Vater war sehr gewalttätig und egoistisch. Meine Mutter stand dem ohnmächtig gegenüber. Ich wußte schon als Kind, dass sein verhalten nicht gut war und schwor mir, nie so zu sein zu meinen Kindern. Ich wünschte ihm mit ca. 10 Jahren den Tod. Ob es nun zu Hause oder in der Schule war, stets gab es körperliche Züchtigungen, die nicht im Verhältnis zu dem standen, was getan wurde. Nun, ich habe 4 Töchter. Niemals kam es mir in den Sinn, sie zu schlagen, im Gegenteil, ich habe ihre Entwicklung durch Freiheiten und Unterstützung ihrer Neigungen gefördert. Niemals hatte eine Tochter von mir Angst gehabt, mich etwas zu fragen oder mir etwas zu sagen, was sie bewegte, wenn es nicht frauenspezifisch war. Sie haben mir nie Sorgen gemacht und sind heute beruflich in guten Positionen, was aber nun kein Maßstab sein soll, denn für diese Eigenschaften kann man mit keiner Erziehung garantieren. Meine jünste Tochter wurde in der 7. Klasse gemobbt. Unter Tränen vertraute sie sich mir in der früh an. Ein Anruf meinerseits bei ihrem Lehrer, der sehr einsichtig war, berieten wir, was zu tun ist. Meine Tochter sagte, sie möchte in eine andere Klasse, in eine Klasse, in der ihre Freundinnen auch wären. Ihr Lehrer befürwortete das. Ich sagte ihm, dass meine Tochter solange nicht zur Schule ginge, bis das geklärt ist. Schon 11:00 Uhr vormittags kam der Anruf, sie solle sich am nächsten Tag bei der Lehrerin in der anderen Klasse melden.....Das wäre zu meiner Zeit unmöglich gewesen. Mein Vater hätte das Verlängerungskabel geholt und mir meine "Flausen" ausgetrieben. Nichts, was mit Liebe zu tun hat, erfuhr ich in meinem Elternhaus. Als Kind kann man nur ertragen, solange, bis es jemanden auffällt und geholfen wird, oder bis ein Alter erreicht ist, dem zu Entfliehen. Warum geschah und geschieht diese Gewalt gegen Kinder? Von meiner Mutter erfuhr ich, dass mein Vater bei seinem Opa aufwuchs, der ihn sehr oft mit einem Ochsenziemer (eine Peitsche aus einem Ochsenschwanz gefertigt) geschlagen hatte. Meines Vaters Unmöglichkeit zur Selbstreflektion ließ ihn diesen Kreis der Gewalt nicht durchbrechen. Und als er starb, so war mir, es wäre ein Fremder gestorben.
Meinen Kommentar schrieb mein wundes Herz, das sich die Vergangenheit aus tiefstem Winkel holte, die aber auch ohne seinem Zutun zuweilen hervortritt, um mich in eine Melancholie verfallen zu lassen.
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre sehr persönliche Offenlegung, die ich mit Staunen gelesen habe.
Liebe Grüße und wohlwollendste Gedanken
H. C.